4. Mai 2015

Kein Kontakt ist auch keine Lösung

Nur ein Bruchteil der Menschen mit Migrationshintergrund lebt in den neuen Bundesländern. Doch wie soll man lernen, mit Menschen anderer Kulturen zusammen zu leben, wenn man ihnen fast nie begegnet? Diesmal mache ich mich auf die Suche nach den Gründen für Fremdenfeindlichkeit.

„Erfahrungen sind die beste Schutzimpfung gegen Vorurteile.“
Heinz Hilpert (1890-1967), deutscher Regisseur und Intendant

Mir fehlt ein Stück Wirklichkeit. Oder besser gesagt: Es fehlte mir. Inzwischen ist es da, wo es hingehört. Eine Erfahrung, die andere bereits als Kinder gemacht haben, habe ich erst mit Mitte 20 nachgeholt. Dabei habe ich all die Jahre gar nicht bemerkt, dass mir etwas gefehlt hat. Allein bin ich damit aber bei weitem nicht.

Im ersten Moment bin ich ziemlich baff, als mir Hans Franken erzählt, Kindern, wie ich eins war, fehle ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit. Es scheint, als gäbe es im Osten Deutschlands manchmal doch eine andere Wirklichkeit als im Westen. Früher allerdings mehr als heute. Der Sozialwissenschaftler und ich unterhalten uns darüber, was für einen Unterschied es macht, wenn man gemeinsam mit anderen Kulturen und Religionen aufwächst. Obwohl viele das für selbstverständlich halten mögen, ist es das nicht unbedingt.

Laut dem Mikrozensus 2013 vom Statistischen Bundesamt leben lediglich 3,4 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund in den neuen Bundesländern, Berlin ausgenommen. Es ist im Osten also wesentlich weniger wahrscheinlich, mit einem oder mehreren Kindern mit Migrationshintergrund die gleiche Schulklasse zu besuchen. So ist es möglich, dass etliche junge Leute in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Co erst während ihrer Studienzeit – oder noch später – wirklichen Kontakt zu Menschen anderer Kulturen haben.

So alt wie die Menschheit selbst

Ich habe mit Sozialwissenschaftler und Fachleiter Hans Franken über Fremdenfeindlichkeit gesprochen. Ein Thema, das spätestens seit den Pegida-Demonstrationen wieder aktuell ist. Dass Fremdenfeindlichkeit im Osten Deutschlands weiter verbreitet ist, hat die „Mitte“-Studie der Universität Leipzig gerade erst wieder gezeigt. Ich möchte gern verstehen, warum das so ist, was Menschen überhaupt dazu bringt, fremdenfeindlich zu sein. „All das, was unbekannt ist, das macht erst mal Scheu und Angst - das ist kein neues Phänomen. Das ist etwas, das es seit Jahrtausenden und in allen möglichen Kulturen gibt. Die Neigung, sich abzugrenzen statt sich zu öffnen, hat auch damit zu tun, dass das, was man kennt, einen sicherer macht als wenn man sich öffnet. Wenn man sich öffnet, bedeutet das auch immer, sich auf ein Wagnis einzulassen, sich auf etwas einzulassen, was unbekannt ist und einen möglicherweise überfordern könnte“, sagt Hans Franken dazu.

In Deutschland gab es zu jeder Zeit Fremdenfeindlichkeit, mal mehr und mal weniger, bis sie zur Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichte. Aber warum ist sie nun in den neuen Bundesländern stärker ausgeprägt als in den alten? Hans Franken wirft mit mir einen Blick in die Vergangenheit, in die Zeit nach 1945. „Es hat damals nach außen hin so etwas wie Fremdenfeindlichkeit in der DDR nicht gegeben. Zumindest nicht offen. Das ging auch nicht, weil die ideologische Decke drüber war. Dieser sozialistische Einheitsstaat war darauf getrimmt, die Klassenunterschiede ideologisch auszubügeln und da war so etwas überhaupt gar nicht vorgesehen“, erzählt er. „Das heißt aber nicht, und das hat sich auch hinterher gezeigt, unmittelbar nach der Wende, dass es diese Fremdenfeindlichkeit nicht gegeben hat. Diese Fremdenfeindlichkeit war da, sie war verdeckt und sie trat offen zutage nach dem Mauerfall.“ In der BRD war die Fremdenfeindlichkeit aber auch nicht ausgestorben. „Es hat immer in der Bevölkerung in Westdeutschland eine geringe, aber es hat eine Fremdenfeindlichkeit gegeben, die im Laufe der folgenden Jahre politisch auch aufgenommen wurde und zwar in dem Maße, in dem man glaubte, nun mal wieder nationalistischer auftreten zu können“, meint Hans Franken. Im Lauf der Zeit bildeten sich wieder rechte Parteien, die NPD hätte es 1969 sogar fast in den Bundestag geschafft. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands nutzten diese Parteien die Gelegenheit und warben neue Mitglieder in den frisch hinzugekommenen Bundesländern an.

Im Jahr 1992 kam es in mehreren deutschen Orten zu gewaltsamen Aufmärschen, die Häuser von Ausländern und Asylbewerberheime wurden in Brand gesteckt. Rostock ist vielen in diesem Zusammenhang im Gedächtnis geblieben. Woher kam diese ausufernde Fremdenfeindlichkeit auf einmal? „Das war ein gesamtdeutsches Phänomen, aber interessant ist das in der Tat in Ostdeutschland. Was war da passiert? Ich glaube, dass dieses Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, überhaupt dieses Nach-Rechts-Rutschen, die Politiker überrascht hat“, sagt Hans Franken dazu. Die Politiker hätten damals mit allem gerechnet, was die Wiedervereinigung an Schwierigkeiten hätte mit sich bringen können, nur eben damit nicht. Er erklärt, dieses Verhalten habe mehrere Gründe gehabt. Zum einen sei das hochgekocht, was bisher unterdrückt worden war. Zum anderen hätte es auf einmal eine Form von unreflektiertem Nationalismus gegeben. „So ein wiedervereinigtes Land, ein größer gewordenes Land, eines, das jetzt auch mit 80 Millionen das bevölkerungsreichste in Europa war, das schuf auf einmal so eine Art neues Selbstbewusstsein“, erklärt mir der Fachleiter. „Da war ein neuer Staat entstanden und damit verbunden war eine Identifikation, die für die Leute selbst nicht geklärt war.“ Hinzugekommen wäre noch die Unzufriedenheit der Menschen im Osten, die doch so große Hoffnungen in die Wiedervereinigung gesetzt hatten, dann aber enttäuscht wurden.

Ich sehe was, was du nicht siehst

Seit damals sind etliche Jahre vergangen. Fremdenfeindlichkeit gibt es in Deutschland nach wie vor. Die Gründe für solches Verhalten sind vielfältig und machen spätestens auf den zweiten Blick überhaupt keinen Sinn mehr. Oft werden Ausländer auch nur als Grund vorgeschoben – sie sind fremd, kennen kaum jemanden hier, der sie in Schutz nehmen könnte, und können sich meist auch nicht wehren. Für diejenigen, die ihre Probleme gern auf andere schieben, sind sie die perfekten Opfer. Besonders oft kommt so etwas vor, wenn die Menschen unzufrieden sind. Sie suchen eine Erklärung für ihre unglückliche Lage und geben dann meist denjenigen die Schuld, die am wenigsten dafür können. Der Arbeitsmarkt ist hierfür ein sehr gutes Beispiel: Ein Langzeitarbeitsloser, der zudem noch älter ist als 50, will nur ungern hören, dass er schwer vermittelbar ist, weil ihn die Unternehmen einfach nicht mehr einstellen wollen. Für viele ist es in dieser Situation einfacher, sich einzureden, jemand anderes hätte ihnen den Arbeitsplatz weggeschnappt.

Wie schon Heinz Hilpert sagte, helfen Erfahrungen am besten gegen Vorurteile – auch gegen das Vorurteil der Fremdenfeindlichkeit. Denn nichts anderes als ein Vorurteil kann es sein. Sobald man sich nämlich die Mühe macht, einen anderen Menschen kennenzulernen, wird dieser nicht mehr fremd sein und aus einer voreiligen Meinung wird ein richtiges Urteil. „Entweder man hat wirklich einen tollen Menschen, dann ist es völlig egal, ob das ein Deutscher oder ein Ausländer ist. Oder man hat einen Drecksack, dann ist es auch egal, ob das ein Deutscher oder ein Ausländer ist. Das zu lernen, dass man das nicht mit diesen Etiketten geregelt bekommt, sondern dass man die Menschen kennenlernen muss und sie nach ihrem Denken, ihrem Tun beurteilen muss, das muss man lernen. Und das ist im Osten mehr als im Westen vielfach verhindert worden“, sagt Hans Franken.

Andere Menschen und ihre jeweiligen Kulturen und Religionen kennenzulernen und zu akzeptieren fällt viel leichter, wenn man Kontakt zu ihnen hat, zum Beispiel gemeinsam aufwächst. Das ist in den meisten Gegenden von Deutschland zwar der Fall, aber eben nicht in allen. Während in mancher westdeutschen Stadt bald jedes zweite Schulkind einen Migrationshintergrund hat, kann man selbige in vielen ostdeutschen Ortschaften mit der Lupe suchen. Als ich das erzähle, entgegnet der Sozialwissenschaftler, dass Kindern, die so aufwachsen, notwendige gesellschaftliche Erkenntnisprozesse fehlen würden. Deutschland sei nun mal ein Einwanderungsland und das gemeinsame Aufwachsen mit Kindern anderer Kulturen sei das Erleben gesellschaftlicher Wirklichkeit. „Kinder lernen, nach Werten zu unterscheiden, die sie von zu Hause mitkriegen, in ihrer Erziehung. Die lernen nicht zu unterscheiden, ob jemand dunkelhäutig ist oder nicht. Und dass das an sich schon ein Wert ist“, fügt er noch hinzu. Viel macht also auch die Erziehung aus.

Der Unterschied zwischen alten und neuen Bundesländern liegt darin, dass die einen automatisch mit dem Fremden konfrontiert werden, was es ihnen leichter machen dürfte, es zu akzeptieren, und somit Fremdenfeindlichkeit entgegenwirkt. In meinen Augen ein klarer Vorteil. Nun können aber die Kinder im Osten Deutschlands wenig für die geringe Ausländerquote in ihrer Heimat. Sie sind aufgrund mangelnder eigener Erfahrungen wesentlich empfänglicher für Vorurteile über Ausländer und müssen auch ohne „Anschauungsunterricht“ lernen, offen auf andere zuzugehen – und in den meisten Fällen gelingt das auch.

Mit wenig Kontakt zu anderen Kulturen aufzuwachsen kann vielleicht den Weg zu Fremdenfeindlichkeit und anderen rechten Angewohnheiten ebnen, führt aber nicht automatisch dahin. Jedem steht es auch dann noch frei, das Wagnis einzugehen, sich zu öffnen und dabei vielleicht sogar einen neuen Freund zu finden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen