4. Mai 2015

Der weiße Fleck

Je weniger wir über die deutsche Geschichte wissen, desto schwerer fällt es uns Beurteilungen und Vorurteile über Ost und West voneinander zu trennen. Wie viel der Geschichtsunterricht in der Schule zu unserem Wissen beisteuert, darüber habe ich mit Lehrern und den Erstellern der Lehrpläne gesprochen.

„Der Aufbau einer eigenen Meinung geht Hand in Hand mit dem Abbau von Vorurteilen.“ 
Ernst Ferstl (*1955), österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker

Es ist schon komisch: Da geht man jahrelang zur Schule und denkt die ganze Zeit, man lerne viel zu viel – bis man eines Tages feststellt, dass es eigentlich zu wenig war. Vielleicht ist aber auch einfach nur zu wenig hängengeblieben. Okay, meine Schulzeit ist schon etwa zehn Jahre her, ärgern kann ich mich über mein Sieb von Gedächtnis aber trotzdem. Es ist ein wichtiges Detail der Wiedervereinigung Deutschlands, dass mein Dozent in einer Vorlesung erwähnt, das mir aber partout nicht bekannt vorkommen will.

Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Als ich mich daran erinnere, kommt mir eine Idee: Kann es sein, dass ich das gar nicht im Geschichtsunterricht hatte? Genau dieser Gedanke brachte den Stein ins Rollen und gab mir den Anstoß für eine Recherche, in deren Verlauf ich mich nicht nur quer durch die Kultusministerien der Republik telefonieren, sondern auch noch herausfinden sollte, dass ich Recht hatte. Vielen Schülern und Studenten fehlen Informationen über die Zeit der Wiedervereinigung – das geben Geschichtslehrer auch unumwunden zu.

Wissen ist Mangelware

Wenn wir Vorurteile nicht aufgrund eigener Erlebnisse annehmen, dann übernehmen wir sie wohl meist von Verwandten, Freunden und Bekannten. Ihnen vertrauen wir – und ihrem Urteil. Das kann aber durchaus auch mal voreilig und falsch sein.  Wenn uns Hintergrundwissen fehlt, fällt es uns schwer, das einzuschätzen. Genau das Problem haben viele, wenn es um Aussagen über die Zeit der Wiedervereinigung geht. Wir haben oder hatten doch alle Geschichtsunterricht in der Schule. Wieso wissen wir anscheinend trotzdem so wenig?

Zugegeben, der Unterricht in Geschichte ist nicht unbedingt das Spannendste, was einem während der Schulzeit passieren kann. Viele Lehrer müssen sich abmühen, um ihre Schüler für den Stoff zu begeistern. Wie so manch anderes Thema ist auch die deutsche Geschichte nach 1945 nicht gerade ein Renner unter Schülern. „Die Frage 'Wann machen wir endlich mal ...' endet immer mit Hitler. Und das fragen sie schon in der fünften Klasse. Aber es fragt keiner 'Wann machen wir mal den Kohl oder den Honecker?“, erzählt mir Christian Sieber, Fachleiter und Geschichtslehrer. Er ist einer von sechs Interviewpartnern, mit denen ich mich über die Lehrpläne und den Geschichtsunterricht in Deutschland unterhalten habe. Ich wollte von ihnen wissen, welchen Stellenwert die deutsch-deutsche Geschichte im Unterricht einnimmt beziehungsweise einnehmen sollte.

In den Interviews bekomme ich auch zu hören, wie gering das Vorwissen über die deutsch-deutsche Geschichte unter den Schülern sei. Vorurteile gegen Ost und West wären immer weniger zu bemerken – ganz weg seien sie aber noch nicht. „Dieses Phänomen – 'da drüben sind die Ossis' – das hat sich ein Stück weit gehalten. Das Wort 'Ossi' ist eher geläufig als das Wissen darüber, dass es die DDR gab. Das ist sehr erschreckend“, sagt Christian Sieber, der an einer Gesamtschule in Rheinland-Pfalz unterrichtet. Von den Lehrern aus den neuen Bundesländern erfahre ich, dass deren Schüler zumindest über die DDR ein ganz gutes Vorwissen mitbrächten.

„Wir haben doch keine Zeit“

Aufgrund des Föderalismus, denn Bildung ist Sache der Bundesländer, werden niemals alle Zehntklässler in Deutschland auf dem gleichen Wissensstand sein. Aber das sind die meisten Zehntklässler innerhalb einer Stadt schon nicht. Das resultiert aus den unterschiedlichen Unterrichtsmethoden der Lehrer und den verschiedenen Lehrplaninhalten in den einzelnen Bundesländern. Dass die Jahre zwischen 1945 und 1990 im Geschichtsunterricht behandelt werden sollten, da sind sich aber alle einig. Möglichst parallel und ausgeglichen soll über ehemalige BRD und DDR berichtet werden – in Ost- und in Westdeutschland.

Oft hapert es jedoch an der Umsetzung der Lehrpläne: In der einen Klasse braucht es mehrere Wochen, die Umstände von Cäsars Tod zu beschreiben, in einer anderen will sich das Mittelalter einfach nicht von der Neuzeit ablösen lassen. So verschiebt sich der Unterrichtsstoff von einer Klassenstufe in die nächste, bis es dann in der zehnten Klasse richtig eng wird. Um den Zweiten Weltkrieg zu besprechen, braucht es Zeit. Zeit, die dann mitunter für die Teilung und die Wiedervereinigung fehlt. In den meisten Fällen können diese aber selbst kurz vor Schuljahresende noch behandelt werden. Was wirklich fehlt ist die Zeit nach 1990.

Die deutsche Geschichte war mit Mauerfall und Wiedervereinigung noch lange nicht abgeschlossen. Die Probleme, die kurz nach der Wende auftraten, waren der Nährboden, aus dem nahezu alle Ost-West-Vorurteile wuchsen. In den aktuellen Lehrplänen wird diese Zeit oftmals zu wenig berücksichtigt. Es stimmt schon, dass gerade Ende des 20. Jahrhunderts sehr viel passiert ist. Es gab zahlreiche politische Entwicklungen, die Landkarten für Europa mussten umgeschrieben werden. Auch das sollten Schüler natürlich wissen, denn all das ist wichtig. Aber was ist, wenn wir deswegen keine Ahnung mehr von der jüngsten Geschichte des Landes haben, in dem wir leben?

Unter dem Zeitmangel im Geschichtsunterricht litten Schüler und Lehrer schon vor über zehn Jahren. Diverse Studien bescheinigen Schülern in regelmäßigen Abständen ein mangelhaftes Wissen über die Jahre nach 1945. Hinzu kommt, dass die derzeit gültigen Lehrpläne mitunter alles andere als neu sind. Diese Probleme sind schon lange bekannt, nur angegangen wurden sie bisher kaum. Die Lehrpläne müssten schlanker werden – weniger Unterrichtsstoff, gleiche Anzahl an Unterrichtsstunden. Die ersten Bundesländer haben die Notwendigkeit erkannt und erarbeiten momentan neue Lehrpläne. Zum Beispiel Rheinland-Pfalz, wie mir Ralph Erbar, Dozent und Fachleiter für Geschichte, erzählt: „In Zukunft werden die Schülerinnen und Schüler ein ganzes Schuljahr Zeit und Gelegenheit haben, sich mit der Geschichte nach 1945 beschäftigen zu können oder zu müssen, je nachdem, wie man das sieht.“

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